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Charles Montgomery

Was hat ein verlorener Geldbeutel mit Gesundheit zu tun?

Oder: Welche Architektur schafft Vertrauen?

Charles Montgomery will glückliche Menschen. Menschen, die sich wohl fühlen in ihrem Haus, ihrer Straße, ihrem Viertel. Architekten und Stadtplaner sollen helfen, uns glücklicher zu machen. Den Autor von „Happy City“  beschäftigt schon seit 20 Jahren das Glück in Städten. Dazu bereiste er alle Kontinente und untersuchte, wo und wie Menschen glücklich sein können. Er kennt und schätzt Tübingen. Unser Brückenhaus zeigt er bei Vorträgen auch in Australien. 

Ein Jahr nach seinem letzten Besuch in Tübingen meldete sich Charles am 25. Oktober 2023 per Zoom am Computer. Er fragte: Wenn Ihr Euren Geldbeutel bei Euch im Viertel verliert, zu wieviel Prozent meint Ihr ihn wiederzubekommen? Wir dachten nach und kamen auf 60 bis 80 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass es einen ehrlichen Finder geben könnte. So viel Vertrauen haben wir offenbar in unsere Nachbarn. Charles gratulierte. Denn in anonymen Großstädten tippt man eher auf 5 bis 10 Prozent.

Also hat Vertrauen etwas mit Stadtplanung zu tun? Mit Größe? Oder gar mit Straßen und Fassaden?

Ja, und noch viel mehr: Vertrauen und Nachbarschaft wirken sich auf das persönliche Glück und auf die Gesundheit aus. Einsamkeit, behauptet Charles, tötet mehr Menschen als Diabetes. Einsame erleiden eher Schlaganfälle und Herzinfarkte. Das Risiko, an Demenz zu erkranken, steigt um 64 Prozent.

Na dann wäre doch ein Hochhaus mit 300 Leuten, die alle den gleichen Fahrstuhl benützen, ein gutes Mittel gegen Einsamkeit? Aber nein, das klappt leider nicht. Der Mensch hat sein eigenes Maß. Bis zu zwölf Haushalte hält Charles für eine gute Menge, um Begegnung und Kommunikation zu fördern. Und auch nur, wenn es Flächen und Räume gibt, wo man sich begegnen kann.

Es sind kleine Schrauben, an denen die Stadtplaner drehen können: Glatte Betonfassaden ohne Gliederung erzeugen ein Gefühl der Unsicherheit. Tiefgaragen verhindern, dass man sich zu Fuß begegnet, gepflasterte Flächen werden von Frauen eher angenommen und als sicherer empfunden als Asphalt. Denn Asphalt gehört zum Auto, und Autos kommunizieren nicht mit Fußgängern.

Ein kleiner Versuch zeigte deutlich: Menschen verhalten sich anders, wenn der Straßenraum belebt und freundlich, begrünt und aktiv gestaltet ist. 

Der Beweis: Ein junges Mädchen stellte sich, das Handy in der Hand, mit dem Ausdruck der Verlorenheit mitten auf die Straße. War sie von Beton und Asphalt umgeben, nahm kaum jemand von ihr Notiz. In einer belebten Umgebung - wie etwa vor der Roten Rübe im Französischen Viertel - boten Passanten ihre Hilfe an.

Was also tun, wenn Flächen so teuer sind wie bei uns? Und Wohnraum immer mehr in die Höhe geschoben wird? Charles brachte zwei interessante Beispiele aus Vancouver mit: Neben einem Hochhaus spielte sich das Leben rund um kleine Mehrfamilienhäuser ab. Im Hochhaus selbst verkümmerten die Beziehungen. Also taten sich mehrere Bewohner zusammen und gründeten eine Art Dorfgemeinschaft aus Mehrfamilienhäusern. Dabei spielten Gemeinschaftsflächen die Hauptrolle: ein Genossenschaftsladen, ein Volleyballplatz, ein paar Hochbeete. Räume, wo man sich auf eine Bank setzen oder etwas werkeln kann, wo man ins Gespräch kommt. In Asien traf Charles auf eine andere pfiffige Idee: Ein Hochhaus wurde horizontal in mehrere Einheiten zu drei Etagen unterteilt, dort richtete man jeweils eine Gasse mit Läden und Kulturangeboten ein. Ein Dorf hochkant, sozusagen.

Charles meinte, wir müssten doch wirklich glücklich sein in Tübingen. Etwa im Brückenhaus, auf dem Spielplatz, im Innenhof, beim Schwatz am Park. Doch da ist durchaus noch Luft nach oben: Auch im Werkhof kann man anonym leben, wenn es bei einem „Hi!“ im Treppenhaus bleibt. Die Angebote des Brückenhauses erreichen immer noch nicht alle, die sich einsam fühlen. Aha, wir ahnen einen Auftrag! Charles hofft mit uns, dass es einen neuen Gemeinschaftsgarten gebe - irgendwie, irgendwann. Denn dort ergibt sich das Gespräch ganz von allein. 

Autorin: Reinhild von Brunn


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